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„Bei dir darf ich sein, wie ich bin und werde mit all meinen Facetten bedingungslos geliebt“

30. Juni 2022

Vor ein paar Wochen gingen Videos und Bilder von Prinz Louis viral. Der vierjährige Sohn von Kate und William wollte beim Thronjubiläum seiner Uroma – ihres Zeichens Königin von England – so gar nicht still sitzen. Im Gegenteil: Er schnitt wilde Grimassen, stieß seine Mutter weg und machte das, was man gemeinhin unter „daneben benehmen“ versteht. Die Medien überschlugen sich: Wie frech ein Kind eigentlich sein könne, Kate habe ihn nicht im Griff bla bla bla. Viele Erziehungsexpert:innen dagegen lobten Kate für ihr liebevolles und doch bestimmtes Verhalten ihrem Sohn gegenüber. Und in dieser ganzen Situation berührte uns ein Kommentar auf Instagram besonders. Kinderärztin Snjezana-Maria Schütt schrieb da:

„Es zeigt, wie wichtig der sichere Hafen für Kinder ist. Wenn ein kleiner süßer Prinz vor Millionen von Menschen Schabernack machen kann, dann verliert vielleicht auch das Autonomiebestreben des eigenen Kindes bspw. an der Supermarktkasse oder bei der Familienfeier einen Teil seines vermeintlichen „Schreckens“. Denn es zeigt lediglich ein altersgerechtes Verhalten und eine sichere Mutter/Vater-Kind-Bindung an.“

Moment, das wollten wir genauer wissen: Ein Kind, das zu Hause die Sau rauslässt, tut das, weil es sich so wohl bei Mama und Papa fühlt?! Ha, das können wir doch den Großeltern und Kita-Erzieher:innen das nächste Mal entgegnen, wenn es wieder heißt: „Also bei uns ist er/sie immer ganz lieb“. Und so baten wir Snjezana (genannt Snjezi) zum Gespräch.

Der Post von mami.hat.recht und der zugehörige Kommentar von die_kinderherztin berührten uns sehr.

Jetzt nochmal ganz langsam für uns zum Mitschreiben: Warum ist „Schabernack“ à la Prinz Louis ein Zeichen für eine sichere Eltern-Kind-Bindung?

Wenn Kinder eine vertrauensvolle Bindung zu ihren Eltern/Bezugspersonen haben und sich sicher und angenommen fühlen, können sie sich auch ein ganz normales kindliches Verhalten „erlauben“. Bei einer – zumindest aus kindlicher Sicht – langweiligen öffentlichen Veranstaltung ist ein bisschen „Schabernack“ (mir fiel spontan kein besseres Wort ein 😉), also z. B. das Schneiden von Grimassen, etwas Übermut oder auch das „Überhören“ von Ermahnungen durchaus altersentsprechend und gleichzeitig auch ein Zeichen, dass sich Prinz Louis von seinen Eltern auch dann angenommen fühlt, wenn ihnen sein Verhalten in der Situation vielleicht missfällt. Kinder, die diese Sicherheit haben, wissen bzw. spüren, dass sie dadurch als Person nicht in Frage gestellt werden.

Kinderärztin Dr. Snjezana-Maria (Snjezi) Schütt

Ist es also sogar ein Kompliment, wenn unser Kind sich bei den Großeltern, der Babysitterin oder in der Kita den ganzen Vormittag zusammengerissen hat und bei uns die Sau rauslässt, sobald wir es abholen? Gerade, weil wir sein sicherer Hafen sind und es weiß, dass es bei uns so sein kann, wie es wirklich ist?

Aus meiner Sicht ist es genau das: Ein Kompliment bzw. eine indirekte, wenn auch manchmal etwas anstrengende, Rückmeldung. Denn sie sagen uns damit: „Bei euch darf ich sein, wie ich bin und werde bedingungslos und mit all meinen Facetten geliebt.“ Das heißt im Umkehrschluss natürlich nicht, dass die Großeltern es nicht auch bedingungslos lieben würden, aber eben anders.

Okay, aber auch wenn das Verhalten unseres Kindes ein positives Zeichen für unsere gegenseitige Bindung ist: Manchmal ist es einfach genug. Wie können wir freundlich aber bestimmt unserem Kind Grenzen aufzeigen?

Unabhängig davon, dass es grundsätzlich ein positives Zeichen ist, dürfen und sollten wir als Eltern einen situationsabhängigen und altersentsprechenden „Rahmen“ vorgeben, in dem es sich sicher bewegen kann und in dem nicht nur die Bedürfnisse des Kindes, sondern auch die der Eltern oder des sozialen Umfelds, Berücksichtigung finden. Das Bedürfnis des Kindes in einer bestimmten Situation zu erkennen, ist zwar wichtig; es heißt aber nicht zwangsläufig, dass es auch immer berücksichtigt werden kann. In gefährlichen Situationen, z. B. im Straßenverkehr (das Kind möchte auf die Straße laufen und wir möchten es vor einem Unfall beschützen), fällt es und erfahrungsgemäß leichter, diese Grenzen vorzugeben.

Beim Wutanfall an der Supermarktkasse fällt es uns dann aber schon schwerer… 

Dort ist es vielleicht nicht ganz so einfach, die Bedürfnisse der direkt oder indirekt beteiligten Akteure zu erkennen, aber dieser „strategisch heikle“ Ort ist gerade deshalb ein gutes Beispiel. An der Supermarktkasse gibt es neben den Bedürfnissen von Kind und Eltern noch einen weiteren, indirekten Akteur, dessen Bedürfnis wir vielleicht ganz am Anfang betrachten sollten, denn es ist nicht ganz unwichtig. Denn auch die Betreiber von Supermärkten haben ein Bedürfnis: Die Situation der wartenden Familien dafür zu nutzen, um Süßigkeiten zu verkaufen. Diese stehen – psychologisch durchdacht – in Augenhöhe der Kinder und das nicht ohne Grund, denn sie sollen genau das bewirken, was Kinder meist einfordern, wenn sie diese erblicken und altersabhängig einordnen können. Das Bedürfnis des Kindes besteht somit häufig darin, wahlweise eine, zwei oder gleich alle Süßigkeiten zu bekommen, die es sieht. Es hat damit weder die Absicht, die Eltern zu ärgern, noch dem Betreiber einen Gewinn zu ermöglichen. Es möchte „nur“ das bekommen, was in Reichweite und Augenhöhe vor ihm steht. Meist trifft es genau an diesem Ort jedoch auch auf die Bedürfnisse der Eltern, die sich nicht selten in einem „Nein“ äußern und zum nächsten Gefühl oder Gefühlssturm des Kindes führen. Das Bedürfnis der Eltern kann z. B. das Bedürfnis nach einer gesunden Ernährung, kariesfreien Zähnen oder auch die Berücksichtigung finanzieller oder pädagogischer Aspekte sein. Es ist also nicht ungewöhnlich, dass hier unterschiedliche Bedürfnisse aufeinandertreffen und Konflikt-Potenzial haben.

Wie könnte eine bedürfnisorientierte Erziehung hier aussehen?

In meinen Augen würde eine bedürfnisorientierte Begleitung in einer solchen Situation bedeuten, dass wir zunächst die oben aufgeführten Hintergründe wahrnehmen und das Verhalten des Kindes als nachvollziehbare Reaktion und nicht als böse Absicht sehen. Allein dadurch schaffen wir eine gute Grundlage. Und das muss auch nicht jedes Mal neu durchdacht werden; es reicht, wenn man es sich einmal vergegenwärtigt.

Ein weiterer und in meinen Augen wichtiger Punkt wäre, das Bedürfnis und/oder das Gefühl des Kindes wertfrei und im besten Fall verständnisvoll zu benennen. Damit fühlt es sich gesehen und mit seinen Gefühlen wahrgenommen und angenommen. Auch das erleichtert meist den weiteren Verlauf. Hier könnte es bspw. heißen: „Ich weiß, Du möchtest die Bonbons und ich sehe, dass Du traurig / wütend bist…“). Wie der Satz enden könnte, hängt davon ab, warum es nicht geht / wir es nicht möchten.

Aus meiner privaten und beruflichen Erfahrung ist die gemeinsame und konstruktive Suche nach möglichen Lösungen ein weiterer hilfreicher Punkt. Der obige Satz könnte z. B. fortgeführt werden mit: „Ich weiß, Du möchtest die Bonbons und ich sehe, dass Du traurig / wütend bist. Wir haben aber schon viele süße/leckere Sachen eingekauft und ich möchte nicht noch mehr davon kaufen, weil sie ungesund sind. Möchtest Du vielleicht tauschen und die Tüte mit den Gummibärchen XY wegbringen und stattdessen die Bonbons XY nehmen?“ Oder: „Ich habe heute nicht genügend Geld mit, um noch weitere Dinge zu kaufen. Aber beim nächsten Mal plane ich es ein und dann darfst Du Dir an der Kasse eine Kleinigkeit aussuchen“. Oder oder oder…

Und wenn es dennoch zu einem Gefühlsausbruch kommt?

Was abhängig vom Alter des Kindes durchaus passieren kann. Dann hilft dem Kind wieder der „sichere Hafen“ weiter. Es darf sein Gefühl erleben und sich auch damit unserer Liebe sicher sein.

Da ich zwei Kinder habe, weiß ich natürlich, wie schwierig der Spagat in den unzähligen alltäglichen Herausforderungen im Alltag mit Kindern ist. Aber ich weiß auch, wie sehr es sich „lohnt“ – gerade in einer schwierigen Situation – ein bisschen Zeit und Mühe zu investieren.

Und wenn es dennoch nicht klappt, weil der Tag stressig war, der Geduldsfaden am Ende ist oder es einfach schnell und ohne weitere Erklärungen gehen muss, kann ich Eltern beruhigen. Denn Kinder sind nicht nur sehr großherzig, sondern lieben uns Eltern auch mit all unseren Facetten. Und wenn wir uns über uns selbst ärgern, weil wir nicht so reagiert haben, wie wir es wollten, dann können wir es beim nächsten Mal anders / besser machen.

Eine Voraussetzung ist dabei jedoch immer wichtig: Dass wir die körperliche und psychische Integrität des Kindes wahren und beschützen.

Gerade von Großeltern, Babysittern und Erzieher:innen kennen wir den allseits „beliebten“ Satz: „Also bei mir ist er/sie immer ganz lieb. Nur wenn ihr in der Nähe seid, führt er/sie sich so auf“. Was können wir darauf entgegnen?

Die perfekte Antwort darauf habe ich leider nicht, aber wenn wir beim Bild des sicheren Hafens bleiben, könnten wir z. B. entgegnen: „Das ist super. So könnt ihr zusammen eine unbeschwerte Zeit genießen und wir – neben dem sicheren Hafen – auch der starke Fels in der Brandung sein“ 😊

Snjezi (Dr. Snjezana-Maria Schütt) ist Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, verheiratet, Mama von zwei Kindern und lebt mit ihrer Familie an der Ostseeküste. Seit 2017 klärt sie auf ihrer Webseite www.die-kinderherztin.de und dem gleichnamigen Instagram-Account über kinderärztliche Themen auf, hat zusammen mit einem kinderärztlichen Kollegen und dem Team von Erste-Hilfe-Rettet-Leben einen Online-Kurs für die Erste Hilfe am Säugling und Kind entwickelt und möchte mit ihrer Arbeit Eltern und Familien eine fachliche Orientierung in der Fülle der Online-Informationen geben.

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