Mom der Woche

Wiebke Litschke

25. Februar 2022
Wiebke Litschke

Unsere Mom der Woche heißt Wiebke. Die 37-Jährige wohnt mit ihrem Mann und ihrem fünfjährigen Sohn Leopold in der Nähe von Bremen, nachdem sie bereits unter anderem in Rom und Seoul gelebt hat. Wiebke bezeichnet sich selbst als „Schreiberling“. Sie ist Journalistin, Texterin und Autorin und hat einen eigenen Erziehungsratgeber über die Kraft von Elternintuition veröffentlicht (Erziehen mit Herz und Bauchgefühl, Trias Verlag). Die Selbstständigkeit gibt ihr die nötige Flexibilität, die sie braucht, um für ihren Sohn da zu sein, der mit einem seltenen Gendefekt geboren wurde – dem Wiedemann-Steiner-Syndrom. Leopolds Diagnose und ihren gemeinsamen Weg bisher beschreibt sie eindrucksvoll auf der Website www.wiedemann-steiner-syndrom.de

Vom Leben mit Behinderung und warum es mit einem zweiten Kind trotz großem Kinderwunsch nicht mehr geklappt hat, erzählt sie uns offen und ehrlich im Interview. Wir freuen uns, dass du dabei bist, liebe Wiebke!

Nach der Geburt eures Sohnes hast du mehrere Jahre erfolglos versucht, nochmals schwanger zu werden. Bis die harte Diagnose schließlich „Unfruchtbar“ hieß. Magst du uns davon erzählen?

Natürlich hat die Diagnose viel mit meinem Mann und mir gemacht. Aber sie war für mich bei weitem nicht so hart wie erwartet. Vor der Diagnose dachte ich oft, dass ich etwas falsch mache. Das wurde mir auch von allen Seiten in meinem Umfeld suggeriert. Ich weiß nicht, wie oft ich mir anhören durfte, dass ich mich zu sehr stresse, zu dünn sei oder zu wenig schlafe. Mein Lieblingsspruch war: „Dein Körper weiß ja, wie es geht.“ Wer meine erste Schwangerschaft miterlebt hat, weiß, wie falsch diese Aussage ist. Da hatte ich nämlich in der 28. Woche zum ersten Mal Frühwehen, lag schließlich ab der 30. Woche im Krankenhaus und schließlich musste der kleine Mann an 32+5 per Notkaiserschnitt geholt werden, weil ihm immer wieder die Herztöne abgesackt sind. Ursache ist bis heute unbekannt.

Ich sage immer: Ich kann vieles – nur nicht schwanger.

Als ich die Diagnose bekam, dass mein rechter Eierstock nicht durchlässig und die Wahrscheinlichkeit auf natürlichem Weg schwanger zu werden sehr gering sei, war das dann wie ein Befreiungsschlag. Nicht ich war fehlerhaft, sondern „nur“ mein Körper konnte nicht schwanger. Ich machte nicht irgendetwas falsch, sondern ein kleiner – wenn auch entscheidender ­– Teil meines Körpers machte nicht das, was er sollte.

Weshalb habt ihr euch gegen eine Kinderwunschbehandlung entschieden? 

Das hatte viele verschiedene Gründe. Zum einen hatte ich Angst vor der Hormonbehandlung an sich. Ich glaube, man darf echt nicht unterschätzen, was Frauen in einer solchen Situation vor allem psychisch auf sich nehmen. Was hätte ich denn gemacht, wenn ich dann nicht für meinen Sohn hätte da seinen können, wie er es verdient? Wenn es nicht beim ersten Mal geklappt hätte und der Druck immer größer würde? Aber auch die Sorge vor einer Fehl- oder erneuten Frühgeburt belasteten mich sehr.

Außerdem hatte ich einmal gelesen, dass bei einer künstlichen Befruchtung, das Risiko für Gendefekte höher sei. Ich konnte zwar keine Bestätigung dafür finden, aber – ob nun wahr oder falsch – der Gedanke nagte an uns. Auch wenn es nur ein Gedankenspiel mit niedriger Wahrscheinlichkeit war, aber ein weiteres Kind mit Behinderung hätte uns an die Grenzen der Belastbarkeit gebracht. Dazu gesellte sich der schmerzhafte Gedanke, ob wir ein behindertes Kind aus einer künstlichen Befruchtung genauso annehmen könnten wie aus einer natürlichen Empfängnis. Wirklich kein schöner Gedanke. Letztlich wollten wir unser Glück einfach nicht herausfordern.

Hast du deinen Frieden mit dieser Entscheidung geschlossen?

Dadurch dass wir diese Entscheidung sehr bewusst getroffen haben, fühlt sie sich für uns sehr gut an. Oft wurden wir gefragt, ob wir nicht Angst hätten, es irgendwann zu bereuen, weil wir es nicht probiert haben. Aber so sind mein Mann und ich nicht. Wir treffen Entscheidungen und stehen dann dazu. Das schwierigste war eigentlich der Entscheidungsprozess.

Wir mussten aus so vielen Gründen lernen, uns von dem Bild, das wir von Familie hatten, zu verabschieden. Wir mussten loslassen und uns neu sortieren. Aber mit ein wenig Abstand ist uns das ganz gut gelungen.

Dein Sohn hat einen sehr seltenen Gendefekt: das Wiedemann-Steiner-Syndrom. Was verbirgt sich dahinter?

Beim Wiedemann-Steiner-Syndrom, kurz WSS, liegt eine Mutation bzw. Störung der Proteintranslation auf einem einzigen Gen vor. Klingt erst einmal nicht so wild, führt aber zu vielseitigen Symptomen wie Minderwuchs, Entwicklungsstörungen, Muskelschwäche und Intelligenzminderung – um nur ganz wenige zu nennen. Wenn man es weiß, erkennt man die Betroffenen auch an äußerlichen Merkmalen wie zum Beispiel vollen und heruntergezogenen Augenbrauen, langen Wimpern und einer flachen Nase. Ähnlich wie beim Down-Syndrom haben die Betroffenen große Ähnlichkeit miteinander. Doch auch WSS hat viele Gesichter und ist sehr variantenreich.

Weltweit sind nur rund 1000 Menschen mit dem Wiedemann-Steiner-Syndrom bekannt. Damit ist unser Sohn wortwörtlich ein One-in-a-Million-Kiddo. Die Zahl nimmt stetig zu und es wird vermutet, dass die Dunkelziffer deutlich höher ist. Wären wir nicht hartnäckig am Ball geblieben, wäre unser Sohn vermutlich auch noch eine ganze Weile durchs Raster gerutscht. Deshalb brauchen so seltene Syndrome unbedingt mehr Aufmerksamkeit, damit Ärzte, insbesondere Humangenetiker, gezielter darauf untersuchen können.

Wiebke Litschke
Wiebke Litschke mit ihrem Sohn Leopold

Und wie äußert es sich bei eurem Sohn?

Bei unserem Sohn spricht man von einer globalen Entwicklungsverzögerung. Er ist für sein Alter sehr klein und leicht und lässt sich bei fast allen Entwicklungsschritten deutlich mehr Zeit. Er konnte wegen seiner Muskelschwäche erst spät sitzen, krabbeln und laufen. Jetzt mit fünf Jahren kann er immer noch nicht fließend sprechen, obwohl sein Wortschatz und Sprachverständnis vollkommen altersgerecht sind. Außerdem wird immer deutlicher, dass er Probleme im logisch-abstrakten Denken hat, obwohl er sich sehr gut Sachen merken kann, eine gute Mustererkennung hat, sehr neugierig und auf seine Weise sehr clever ist. Laut ersten Tests bewegt er sich im Bereich der Lernbehinderung. Dass er sich nur schlecht konzentrieren kann und sich schnell ablenken lässt, trägt da natürlich einiges zu bei.

Mit zunehmendem Alter zeigen sich bei ihm auch immer mehr autistische Verhaltensweisen. Bei Überforderung stimmt er sich zum Beispiel durch sehr lautes Singen oder Sirenengeräusche. Außerdem hat er große Probleme beim Einschlafen und schläft auch immer noch nicht durch.

Inwieweit beeinträchtigt ihn die Erkrankung sonst?

Leopold ist sehr anfällig für Infekte. Was bei anderen Kindern ein Schnupfen ist, endet bei ihm innerhalb kürzester Zeit in einer dicken Bronchitis. Außerdem hat er mit noch nicht einmal sechs Jahren schon zehn OPs hinter sich. Er ist einfach ein kleiner, tapferer Rockstar. Die größte Beeinträchtigung ist aber wohl die Intelligenzminderung. Es ist vollkommen unklar, ob er jemals einen Schulabschluss machen wird, einem Beruf nachgehen oder alleine leben kann. Er hat zum Glück ein sehr großes Selbstbewusstsein und nimmt seine Einschränkungen – zumindest aktuell – noch nicht so wahr. Und genau darin versuchen wir, ihn stark zu machen. Uns ist ganz egal, welches „Label“ seine Zukunft trägt – Hauptsache er ist glücklich uns zufrieden.

Wie sieht ein typischer Tag bei euch aus?

Im ersten Moment mutet unser Alltag eigentlich ganz „normal“ an. Leopold geht morgens in einen heilpädagogischen Kindergarten. Wenn wir ihn mittags abholen, starten wir das Nachmittagsprogramm: Treffen mit Freunden, Oma-Tag oder zu Hause chillen und spielen. Allerdings müssen wir sehr darauf achten, dass ihm das Programm nicht zu viel wird und er ausreichend Auszeiten bekommt. Das Abendprogramm ist bei uns sehr genau getaktet und sogar im Urlaub behalten wir es weitestgehend bei. Unser Sohn braucht diese Routinen sehr.

Doch zu dem alltäglichen Wahnsinn kommen bei uns noch jede Menge Therapie- und Arzttermine hinzu. Aktuell erhält er Physio- und Ergotherapie, sowie Logopädie, wovon aber einige Sachen zum Glück im Kindergarten stattfinden können. In jedem Quartal hat er mindestens fünf wiederkehrende Kontrolltermine bei diversen Spezialisten. Hinzu kommen aufgrund seines empfindlichen Immunsystems immer wieder Untersuchungen beim Kinderarzt.

Der größte Zeitfresser ist allerdings die deutsche Bürokratie. Ich weiß nicht viele Stunden ich über diversen Anträgen verbringe. Es ist echt schade, dass man das nicht einfacher gestalten kann.

Wiebkes Familie

Wie teilst du dir mit deinem Mann die Kinderbetreuung auf?

Wir teilen uns alle Aufgaben sehr partnerschaftlich auf. Das ist nicht immer 50:50. Aber wir führen da auch keine Strichliste. Uns ist wichtig, dass sich die Gewichtung für uns gut und fair anfühlt. Mein Mann bringt unseren Sohn fast jeden Morgen in den Kindergarten, sodass ich in Ruhe duschen kann. Das ist purer Luxus. Lange Zeit hat mein Mann ihn auch jeden Abend ins Bett gebracht. Gerade versuchen wir aber, uns abzuwechseln, damit jeder mal etwas früher Feierabend hat.

Was wir auch machen: Wir achten sehr darauf, dass jeder auch mal seine Auszeiten bekommt. Die täglichen Belastungen mit einem Kind mit Behinderung, vor allem die emotionalen, sind einfach höher. Da braucht jeder mal Zeit, um durchzuatmen und zu verschnaufen.

Dazu gehört auch, dass jeder von uns 1-2-mal im Jahr kleine Trips alleine macht. Gerne würden wir auch mal wieder als Paar ohne Kind verreisen. Allerdings ist unser Sohn nach einem OP-Marathon vor ein paar Jahren immer noch traumatisiert und möchte partout nicht mehr bei Oma schlafen. Wir hoffen sehr, dass sich das irgendwann einmal wieder ändert.

Was steht in diesem Moment ganz oben auf deiner To-Do-Liste?

Ich bin so ein kleiner Pedant, der selten mal etwas auf die lange Bank schiebt. Meine To-Do-Liste gleicht aktuell eher einer Bucket List: Ich würde so gerne wieder mehr reisen. Durch Corona und die hohe Anfälligkeit unseres Sohnes waren wir lange Zeit sehr vorsichtig. Dass er jetzt geimpft ist, gibt uns viel mehr Sicherheit und lässt uns hoffen, bald wieder etwas von der Welt zu sehen. Und tanzen. Ich vermisse es sehr, tanzen zu gehen.

Welchen SOS-Tipp hast du für Mamis in einer Stresssituation?

Hilfe holen, Kind abgeben, Pausen machen und viele Dinge einfach mal liegen lassen. Außerdem bin ich ein absoluter Verfechter von Elternintuition. Weil sich unser Sohn in keine Schublade stecken lässt, mussten wir quasi aus der Not heraus auf unser Bauchgefühl vertrauen. Dadurch dass wir nicht links und rechts schauen und blind irgendwelchen Tipps und Ratgebern folgen können, bleiben wir in den meisten Fällen sehr entspannt. Wir bleiben uns und unserer Familie treu – das nimmt sehr sehr viel Druck raus. Da jedes Kind ein Individuum ist, glaube ich, dass vielen Eltern etwas mehr Intuition guttun würde.

Zum Thema Elternintuition hat Wiebke Litschke einen eigenen Ratgeber geschrieben.

Wofür hättest du gern mehr Zeit?

Zum Tüdeln und in den Tag hineinleben. Und zum Schreiben und Lesen. Ich habe da noch ein paar Ideen in meinem Kopf, die raus wollen. Aber wie heißt es so schön: Man braucht, um zu schreiben, jede Menge Zeit zum Verschwenden. Ähnlich ist es beim Lesen. Ich liebe es, brauche aber einen absolut freien Kopf dafür, um es zu genießen. Mein Kompromiss: Hörbücher.

Wofür bist du deinem Sohn dankbar?

Ach, für so so so vieles. So kitschig es klingt, aber er ist für mich/ uns eine absolute Bereicherung. Aber er hat mir vor allem eines gezeigt: Ich selbst bin sehr privilegiert aufgewachsen.

Seine Behinderung zeigt mir schmerzlich, wie diskriminierend unsere Gesellschaft gegenüber Menschen ist, die anders sind, anders aussehen, anders leben wollen.

Ich engagiere mich mittlerweile nicht nur im Beirat für Menschen mit Behinderung in unserer Stadt, sondern habe auch einen viel sensibleren Blick auf andere Ausgrenzungen in unserer Gesellschaft. Ich bin lauter und unbequemer geworden. Das gefällt nicht allen. Aber für meinen Sohn möchte ich für eine offenere und tolerantere Gesellschaft kämpfen – und da fang ich am besten bei mir selbst an.

Was ist gerade das Beste in deinem Leben?

Natürlich mein Sohn. Zwar ist der kleine Problembär der Verursacher von so vielen Baustellen, aber er ist auch unsere größte Kraftquelle. Er kann ja am wenigsten etwas dafür. Aber mit seiner sonnigen Art, seinem Witz und Charme, seiner Neugier und seiner unbändigen Begeisterungsfähigkeit bereitet er uns jeden einzelnen Tag so viel Freude. Auch wenn da viele Baustellen sind, wir sind vor allem eines: eine sehr glückliche Familie.

Vielen Dank, liebe Wiebke, für den ehrlichen Einblick in deinen Familienalltag! Wir wünschen euch alles Gute auf eurem weiteren Weg! ❤️

Du willst unsere „Mom der Woche“ werden? Dann melde dich einfach bei uns unter info(at)mamiful.de

Wir freuen uns auf dich und deine Geschichte.

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